„Wenn ich dich fragen würde, wer du bist, was wäre das Erste, das dir einfallen würde?“
Ich sehe den Mann an, der in dem Krankenhausbett vor mir liegt, bin verblüfft. Das ist nicht, was ich erwartet habe, als er mich eben darum bat, mir eine persönliche Frage stellen zu dürfen. Tatsächlich muss ich nicht lange überlegen.
„Ich bin Basketballtrainer,“ sage ich. Basketball ist alles für mich. Ich habe selbst früher gespielt, jetzt trainiere ich meinen Sohn und seine Mannschaft. Ein Leben ohne Basketball kann ich mir nicht recht vorstellen.
„Und wenn das wegfällt?“ Der Blick des Mannes ist durchdringend, viel mehr, als ich es von seinen blinden Augen erwartet hätte.
Ich runzle die Stirn, bin mir nicht sicher, worauf er hinauswill.
„Ich bin Geschichtslehrer.“
„Und weiter?“
„Ich bin auch Vater. Ehemann.“
Er lässt nicht locker.
„Und sollte sich das jemals ändern?“
Langsam reicht es mir.
„Ich bin ein weißer, männlicher Amerikaner.“
„Noch irgendetwas?“
„Ich bin Christ, ein Nachfolger von Jesus?“ Inzwischen frage ich mehr, als dass ich antworte. Was bezweckt er mit diesen Fragen?
Er nickt leicht, als hätte er auf diese Antwort gewartet.
„Und wie wichtig ist das?“, fragt er dann.
Diesmal fällt es mir leicht zu antworten.
„Sehr wichtig.“
Wieder ruhen seine blinden Augen auf mir, eindringlich, gerade so, als würde er mich mustern. Ich fühle mich unwohl.
„Interessant.“ Er legt den Kopf schief. „Dafür, dass es dir so wichtig ist, ein Nachfolger von Jesus zu sein, ist es ganz schön weit unten auf deiner Liste.“
Ich lehne mich zurück, etwas aufgebracht.
„Ach komm, ich hätte das leicht als Erstes nennen können.“
„Ja, aber das hast du nicht.“
Inhaltsverzeichnis
1. Für wen ist die Frage „Wer bin ich?“ relevant?
Die einleitende Szene stammt aus dem christlichen Film Overcomer und zeigt sehr eindrücklich, wie leider viele Christen mit ihrer Identität umgehen. Sicher betrifft das nicht alle von uns zu jeder Zeit in unserem Leben, aber im Auf und Ab unseres Alltags können sich bestimmt einige von uns in der Rolle des Basketballtrainers wiederfinden. Auch wenn wir eigentlich wissen, dass Jesus unsere Identität bestimmt, verlieren wir diese Wahrheit leider oft aus den Augen. Daher ist es gut, wenn wir uns immer wieder hinterfragen, woran wir unsere Identität festmachen.
Als Christen wissen wir eigentlich sehr gut, dass unsere Identität „in Christus“ ist. Aber was genau heißt das eigentlich? Und welchen Einfluss nimmt das wirklich auf unser Leben? Tendieren wir nicht dazu, wider besseres Wissen unseren Wert und unsere Identität an anderen Dingen festzumachen, an subjektiven Erfahrungen wie unserem Beruf, unserem Aussehen oder unseren Beziehungen?
Manches in diesem Artikel wird vielleicht neu für dich sein, manches ist altbekannt. Das ist okay. Schließlich geht es nicht darum, dich zu belehren. Vielmehr soll dir der Artikel zur Ermutigung dienen und dir helfen, dich noch einmal neu auf Christus auszurichten, unabhängig davon, wie sicher du schon in deiner Identität bist. Außerdem bietet der Artikel hoffentlich eine Hilfestellung für Gespräche mit Nichtchristen. Immerhin ist in der heutigen Gesellschaft kaum ein Thema so relevant wie die Frage „Wer bin ich?“.
In diesem Sinn ist die Identität in Christus der Ist-Zustand eines jeden Christen, den es besser zu begreifen gilt. Gleichzeitig ist es der Soll-Zustand der nichtchristlichen Menschheit, das, was Gott eigentlich für alle beabsichtigt hatte. Die Frage „Wer bin ich?“ geht also jeden von uns etwas an. Je besser wir selbst darauf antworten können, desto leichter können wir hoffentlich auch unseren Mitmenschen, z. B: Freunden oder Kollegen, eine neue, biblische Perspektive über ihre Ist-/Soll-Identität geben.
Es lässt sich natürlich viel über das Thema Identität sagen, zu viel, um alles in einem einzigen Artikel festzuhalten. Deshalb stehen im Fokus dieses Beitrages zwei Aspekte unserer Identität: unser Körper und die geistliche Realität unserer Identität „in Christus“. Als Grundlage für den Artikel dienen die Bücher Gute Nachrichten für unseren Körper von Sam Allberry und Wer bin ich? von Jerry Bridges.
2. Wer bin ich? Oder: Was hat mein Körper mit mir zu tun?
Allberry beschreibt in seinem Buch zwei gefährliche Extreme, wie wir mit unserem Körper umgehen können: Entweder er bedeutet uns alles oder er bedeutet uns nichts.
Entweder wir machen unseren Wert daran fest, wie wir aussehen und ob andere uns attraktiv finden. Durch „meinen Style“ – Kleidung, Schmuck, Bemühungen um die „Idealfigur“ – stelle ich mich dar und versuche auszudrücken, wer ich bin. Wir definieren uns über unseren Körper. Diese Haltung kann zu einem niedrigen Selbstwertgefühl, Essstörungen, Selbstverletzung einerseits, und Arroganz, Eitelkeit und Oberflächlichkeit andererseits führen. Dieses Verständnis ist sicher auch einer der Gründe, weshalb in unserer Gesellschaft die Idee Einzug gehalten hat, dass unsere Identität dadurch bestimmt wird, wie wir uns in unserem Körper empfinden. Die subjektive Erfahrung des Körpers bzw. der Sexualität wird dann zur Autorität ernannt.
Oder wir sehen unseren Körper als notwendiges Übel zum Überleben an, als eine bedeutungslose Hülle, in der unser „wahres Ich“ steckt. Wir trennen Geist und Körper so sehr voneinander, dass es uns egal ist, wie wir unseren Körper behandeln. Dabei verfallen wir der Annahme, dass unser Körper auch Gott egal sei. Der Körper wird als ein Bereich gesehen, der angeblich nichts mit Gott, Moral und Glauben zu tun hat. Das ist falsch und kann zu sexueller Unmoral führen – wie Paulus den Korinthern verdeutlicht (vgl. 1. Korinther 6). Eine Unterbetonung der Bedeutung unseres Körpers würde auch nicht der Tatsache gerecht werden, dass dieser Körper Basis des neuen Auferstehungsleibes sein wird. Ein bloßes Hoffen auf die „Erlösung vom jetzigen Körper“ verschiebt also die biblische Perspektive (vgl. 1. Korinther 15).
Aber warum haben diese Ansichten nicht nur schlimme Auswirkungen, sondern sind auch in sich falsch?
„Wäre [unser Körper] bloß das Produkt von Zufallsprozessen, könnten wir ihn zu Recht als etwas abtun, das keine weitere theologische Bedeutung hat. Unser Körper würde uns nichts Wesentliches darüber erzählen, wer wir sind. Unser Selbstverständnis sei komplett woanders zu finden, ohne unbedingt einen Bezug zu unserem Körper zu haben.“
(Sam Allberry)
Wir wissen jedoch, dass wir eben nicht durch Zufall entstanden sind. Tatsächlich lesen wir im Schöpfungsbericht sogar, dass Gott unseren Körper zuerst erschuf, dann Leben einhauchte und das Endergebnis als „sehr gut“ deklarierte.
Wir sind, wie Allberry es nennt, beseelte Körper und nicht verkörperte Seelen. Gott erschuf nicht die Seele Adam, sein „wahres Ich“, und verstaute sie in einer fleischlichen Hülle. Sondern er schuf einen Körper und gab ihm Leben, Gedanken, Gefühle. Das heißt, unser Körper ist damit ein Teil unseres Wesens, unserer Identität.
Aber: Der Körper war kein Mensch, solange Gott nicht seinen Lebensodem eingehaucht hatte. Der Körper allein ist also auch nicht unser „wahres Ich“. Er ist eben nur ein Teil davon – und er bekommt die Folgen des Sündenfalls zu spüren: Krankheit, Alterung, Tod. Manch einer fühlt sich im falschen Körper gefangen. Andere verachten ihr Aussehen, weil es nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht.
Doch den richtigen Umgang mit diesen Problemen werden wir nie in uns selbst finden: Egal, was wir mit unserem Körper machen, es wird uns nicht helfen, dauerhaft und wahrhaftig unser wahres Ich zu fühlen. Ob wir uns wie jemand vom anderen Geschlecht kleiden, Schönheits-OPs vornehmen lassen oder Verjüngungskuren machen: Die Freiheit, nach der wir uns sehnen, und die Zufriedenheit mit der eigenen Identität können wir nur in Jesus Christus finden. Denn:
Unser Körper ist wunderbar gemacht und nur weil wir runzelig werden oder dem modernen Schönheitsideal nicht entsprechen, bereut Gott nicht, ihn gemacht zu haben. Aber der Körper ist eben auch Teil der seit dem Sündenfall kaputten Schöpfung. Er ist Teil des Problems. Und als Teil des Problems kann er nicht zur Lösung des Problems beitragen. Das heißt, wir können unsere Identität nicht in der Optimierung unseres Körpers finden.
Was heißt das alles nun in Bezug auf die zwei Tendenzen, die wir uns am Anfang angeschaut haben? Es bedeutet:
Der Körper ist nicht alles. Und der Körper ist nicht nichts. Er ist durchaus Teil unserer Identität, aber er ist nicht das Wichtigste. Wir sollten ihn also weder missachten noch ihn verehren. Es braucht ein gesundes Mittelmaß, einen bewussten Umgang mit unserem Körper. Dazu gehört nicht nur, wie wir über ihn denken, sondern auch, wie wir ihn verwenden.
Mit unserem Körper – mit den verschiedenen Körperteilen – können wir Gott entweder ehren oder verachten.
Irgendwie ist uns das schon klar, oder? Aber wie sich das genau äußert, ist für uns vielleicht nicht immer so eindeutig, weil diese Thematik tendenziell eher selten in Predigten und Vorträgen fokussiert behandelt wird. Aber wie ernst wir unseren Körper nehmen – geistlich betrachtet –, hat einen Einfluss darauf, ob wir ihn zu Gottes Ehre verwenden oder nicht. Dazu zwei Texte, die diesen Gegensatz wunderbar herausstellen:
„Unsere Füße laufen auf [Gottes] Wegen, unsere Lippen sprechen die Wahrheit und verbreiten das Evangelium, unsere Zungen bringen Heilung, unsere Hände helfen jenen auf, die gefallen sind, und erfüllen viele alltägliche Aufgaben wie Kochen und Putzen, Tippen und Reparieren; unsere Arme umarmen die Einsamen und Ungeliebten, unsere Ohren hören die Schreie der Notleidenden, und unsere Augen blicken demütig und geduldig auf Gott.“
(John Stott in The message of Romans)
„Ihre Kehle ist ein offenes Grab, mit ihren Zungen betrügen sie; Otterngift ist unter ihren Lippen; ihr Mund ist voll Fluchen und Bitterkeit, ihre Füße eilen, um Blut zu vergießen (…) Es ist keine Gottesfurcht vor ihren Augen.“
(Römer 3,13–18)
Warum hat Gott uns also unseren Körper gegeben? Nicht, damit wir ihn zu unserem Götzen machen und auch nicht, damit wir ihn verachten. Sondern damit wir ihn ganz bewusst dazu einsetzen, Gott zu lieben und zu ehren und aus dieser Liebe heraus den Menschen um uns herum zu dienen (vgl. auch Römer 6,13).
Versuchen wir also, unseren Körper (noch mehr) so zu sehen, wie Gott ihn gedacht hat: Als Teil unserer Identität. Gott hat uns Verantwortung dafür übertragen, wie wir ihn behandeln und wie wir ihn verwenden, und eines Tages werden wir dafür auch vor Gott geradestehen müssen.
Der Körper ist nicht alles. Aber er ist auch nicht nichts.
3. Identität in Christus – was heißt das eigentlich?
Die Phrase „Identität in Christus“ dürfte den meisten von uns bekannt sein, wir betiteln Bücher und Predigten danach und erzählen vielleicht sogar in unserem Lebensbericht, dass unsere Identität jetzt „in Christus“ ist. Aber … was heißt das eigentlich?
Die Tatsache, dass wir eine Identität „in Christus“ haben können, heißt automatisch, dass wir auch eine haben können, die nicht in ihm begründet liegt. Das Faszinierende daran ist: Ob unsere Identität in Christus begründet ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob wir uns danach fühlen, dem zustimmen, es wissen oder es spüren.
Es ist eine Tatsache.
In den Briefen von Paulus kommt der Begriff (mit seinen Variationen „in ihm“ oder „im Herrn“) wohl über 160-mal vor. Gegenübergestellt wird ihm der Begriff „in Adam“.
Entweder sind wir „in Adam“, das heißt, Adam ist in seiner sündigen Natur unser Repräsentant. Oder wir sind „in Christus“, also Jesus ist in seiner heiligen Natur unser Repräsentant.
Das bedeutet, abhängig ist unsere Identität davon, ob wir Jesus Christus als unseren Herrn und Retter angenommen haben oder nicht.
Traurigerweise ist es jedoch durchaus möglich, dass sich unsere Identität faktisch in Christus gründet und wir praktisch aber so leben, als sei sie in Adam gegründet:
Dann machen wir unseren Wert eben daran fest, wie wir aussehen, dass wir Karriere machen oder dass wir eine Vorzeige-Familie haben. Wenn wir unsere Identität in Christus nicht verstanden haben, müssen wir nicht nur Menschen beeindrucken oder ihren Erwartungen entsprechen. Sondern wir stehen auch – mehr oder weniger bewusst – unter dem Druck, Gott gefallen zu müssen. Dann verfallen wir in einen Leistungsmodus, wollen uns vor Gott beweisen bzw. uns seine Liebe verdienen. Warum?
Weil wir unseren Wert darüber definieren, ob wir praktisch „gute Christen“ sind, und nicht darin, wer wir faktisch in Christus schon sind.
Was heißt es also, „in Christus“ zu sein und was bedeutet das für unser tägliches Leben?
Der Begriff „in Christus“ bezeichnet unsere Einheit mit ihm. Wir sind eine organische Einheit mit ihm. Vielleicht kennst du das Bild vom Weinstock und den Reben. Wir haben Anteil an seiner Gerechtigkeit, an seiner Stellung vor dem Vater, an seinem Wesen. Außerdem an seiner Heiligkeit und seinem Dienst. Aber sehen wir uns die verschiedenen Aspekte einzeln an.
Jeder von uns, der Christus als seinen Herrn angenommen hat, kann sagen: Ich bin …!
Ich bin … gerechtfertigt!
In Bezug auf unsere Rettung ist es nicht wie in der Schule, wo 50–70% der Leistung reichen, um die Prüfung zu bestehen. Wenn wir Gott einigermaßen gehorsam sind, reicht das nicht aus. Entweder wir sind gerechtfertigt – also juristisch für gerecht erklärt worden – oder wir sind es nicht. Und wenn wir unser eigenes Leben anschauen, ist klar, dass wir das aus uns heraus definitiv nicht sind.
Das Interessante ist, dass es dabei nicht ausschließlich darum geht, dass Jesus unsere Schuld auf sich genommen hat. Das war nur der erste Schritt. Jerry Bridges vergleicht das Ganze mit einem Kontostand:
Das „Sündenkonto“ von jedem von uns ist rot. Nicht rötlich schimmernd, nicht mattrot, sondern dunkelrot. Durch seinen Tod und sein Auferstehen nimmt Jesus unsere gesamte Schuld auf sich – jetzt steht das Konto bei einer schwarzen Null. Aber damit endet es eben nicht. Sondern Gott rechnet jedem, der glaubt, die Gerechtigkeit von Jesus an. Jesus, der sündlos gelebt hat. Diese Gerechtigkeit steht nun als grünes Plus auf unserem Konto vor Gott.
Das heißt es, vor Gott gerechtfertigt zu sein. Es hat nichts damit zu tun, was wir leisten oder unterlassen, weder vor noch nach unserer Errettung. Möglich ist es, weil wir „in Christus“ sind, weil wir uns auf ihn verlassen (auf seine Gerechtigkeit) und nicht auf uns selbst. Es passiert genau einmal durch Glauben und ist dauerhaft, egal, wie oft wir danach versagen oder wie toll wir uns verhalten: Unser „Punktestand“ vor Gott verändert sich weder in die eine noch in die andere Richtung. Wenn Gott uns ansieht, sieht er Christus. Deshalb sind wir gerechtfertigt.
Ich bin … adoptiert!
Vor Gott sind wir nicht nur aus juristischer Sicht gerechtfertigt, sondern auch als seine Söhne adoptiert. Die Adoption als Söhne sichert uns eine familiäre, intime Beziehung zu Gott und macht uns zu Erben.
„So bist du also nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, dann auch Erbe Gottes durch Christus.“
(Galater 4,7)
Bridges führt aus, dass zur damaligen Zeit nur Söhne berechtigt waren zu erben. Dass Paulus hier „Sohn“ schreibt, hat nichts mit dem Geschlecht der Briefempfänger zu tun. Vielmehr hat Paulus die Frauen ganz bewusst in diesen Begriff mit einbezogen, um zu zeigen, dass auch sie Erben Gottes sind.
Über die Frage, was genau das Erbe ist, das wir von Gott bekommen, lassen sich vermutlich ein Dutzend Predigten halten. Deshalb steht an dieser Stelle nicht im Fokus, was wir erben, sondern vielmehr, welche Auswirkungen diese Adoption für uns hat.
Für die Zukunft gibt sie uns Hoffnung, vor allem, wenn wir an Römer 8 denken, wo Paulus sagt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit letztlich nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die uns erwartet.
Dass wir Erben Gottes sind, lässt uns also anders mit leidvollen und herausfordernden Erfahrungen umgehen.
Darüber hinaus haben wir gegenwärtig eine intime Beziehung zu Gott. Dass das nicht selbstverständlich ist, müssen wir uns immer wieder bewusst machen: Der ewige, unabhängige, allmächtige, heilige Gott hat uns adoptiert. Er, der nicht nur über der Welt, sondern über alle Galaxien und das gesamte Universum erhaben ist – er erlaubt uns, ihn Vater zu nennen.
In Römer 8,15 (vgl. auch Galater 4,6) lesen wir, dass wir „Abba, Vater!“ rufen dürfen. Wenn wir bedenken, wer Gott ist – der allmächtige, ewige, souveräne Schöpfer des Universums –, merken wir erst, was für eine Ehre das ist. Denn:
„Abba war ein aramäisches Wort, ein Ausdruck familiärer Vertrautheit, der vor allem von jüdischen Kindern als Anrede für ihren Vater verwendet wurde. Es impliziert ein Gefühl kindlicher Abhängigkeit, aber auch die Erwartung, dass Abba ihre Bedürfnisse stillen würde.“
(Jerry Bridges)
Und so dürfen auch wir Gott als einem liebenden Vater begegnen – was für ein wunderbares Privileg!
Je mehr wir uns das jeden Tag bewusst machen, desto weniger verstehen wir Gebet als lästige Pflicht. Vielmehr können wir es als große Freude und als Vorrecht genießen, mit unserem himmlischen Vater Zeit zu verbringen, ihm Ehre zu erweisen und unsere Anliegen vor ihn zu bringen.
Was ist noch auszeichnend für unsere Adoption?
Sie ist dauerhaft. Genauso wie die Rechtfertigung ändert sich unsere Adoption nie, sie ist unabhängig von den Umständen und von unserem Verhalten.
Wir sind eindeutig aufgefordert, ein Leben zu führen, das Gott ehrt. Wir sollen die Bibel lesen und beten. Buße tun, wenn wir sündigen. Aber auch, wenn wir das alles eine Zeit lang nicht tun, leidet zwar unsere Intimität mit Gott, aber nicht unser Verhältnis zu ihm. Wir sind immer noch seine Söhne und Töchter. Er hält uns die Sünde nicht vor (vgl. Römer 8,1).
Ich bin … eine neue Schöpfung!
Bei unserer Errettung findet kein Upcycling statt, bei dem die noch brauchbaren Teile von uns beibehalten und verbessert werden. Gott macht uns komplett neu: Er gibt uns ein neues Herz, einen neuen Geist, eine neue Identität. Wir sind also eine neue Schöpfung, auch wenn das nicht bei jedem sofort sichtbar wird.
Manch einer erlebt eine 180-Grad-Wende, aber viele merken auch zunächst kaum Veränderung und machen da weiter, wo sie vorher aufgehört haben (zum Thema Perfektion kommen wir noch). Aber das ändert nichts daran, dass wir eine neue Schöpfung sind. Gott hat uns verändert, also sind wir nicht in der Lage, dauerhaft zu bleiben, wie wir sind bzw. vorher waren.
Wir können nicht in Sünde verharren. Wir werden alte Überzeugungen ablegen und neue Perspektiven vertreten. Wir werden unsere Beziehungen anders leben. Alles ändert sich, weil Gott in diesem einen Moment alles verändert hat.
Und das kann man nicht rückgängig machen.
Ich bin … ein Heiliger!
Ja, du liest richtig. Du bist ein Heiliger (oder eine Heilige). Ist es unverfroren, so etwas zu sagen? Stammt diese Begrifflichkeit nicht aus der katholischen Kirche, wo sie für ganz besondere Menschen reserviert ist? Nein, und das hängt mit den bereits behandelten Punkten zusammen.
Es gibt einen Moment der Heiligung. Das ist dann, wenn wir unser Vertrauen auf Jesus setzen. In diesem Moment werden wir zu einer neuen Schöpfung. Wir werden geheiligt, und zwar ein für alle Mal. Denn:
Gott rechnet uns die Gerechtigkeit von Jesus an und sondert uns für sich ab. In unserem Zustand oder Status vor Gott sind wir jetzt also Heilige. Insbesondere in den Briefen von Paulus wird das deutlich: Die meisten seiner Briefe adressiert er an „die Heiligen in …“, wobei er sich immer an die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen wendet und nicht an einzelne Super-Christen in der Gegend. Jeder einzelne Christ ist also ein für alle Mal ein Heiliger.
Aber: Es gibt immer noch die progressive (fortlaufende) Heiligung. Progressive Heiligung bedeutet, dass wir immer mehr erkennen, dass wir für Gott abgesondert sind, dass wir mitsamt unserem Leben sein Eigentum sind. Folgerichtig hat er das Eigentumsrecht über uns, das ist seine Herrschaft über unser Leben. Welches Sündenbewusstsein wir haben – beispielsweise wenn wir uns täglich gegen Gottes Herrschaft über unser Leben auflehnen –, beeinflusst auch unsere progressive Heiligung.
Das heißt: Jeder von uns ist ein Heiliger. Aber jeder erlebt die progressive Heiligung in einer anderen Schnelligkeit, Intensität und Reihenfolge. Das ist individuell.
Aber du bist jetzt schon ein Heiliger.
Ich bin … ein Knecht Christi!
Es ist kein Geheimnis, dass jeder Mensch entweder Gott oder einem Götzen dient. Hierbei sind Götzen natürlich nur noch selten die kleinen Figuren, die man auf seinem Hausaltar stehen hat und anbetet. Heutzutage sind es unsere Beziehungen, unsere Karriere, unser Lieblingsverein … Nichtchristen haben alle ihre eigenen Götzen, denen sie ihr Leben widmen, selbst wenn sie sich Atheisten nennen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass auch wir Christen oft Götzen in unserem Leben haben.
Entweder wir dienen uns selbst oder wir dienen Gott. Das heißt nicht, dass wir entweder Knechte Gottes sind oder es nicht sind.
Daran, wer unser Herr ist, ändert sich nämlich nichts – es ist Jesus. Die Frage ist vielmehr, ob wir diesem Herrn gehorsam sind. Warum? Naja, Paulus vergleicht uns mit einem Sklaven. Ein Sklave wird auf dem Markt gekauft und ob er seinem neuen Herrn gehorcht oder das macht, was ein anderer ihm sagt, ändert nichts daran, dass er gekauft wurde.
Und Jesus hat uns mit seinem eigenen Leben freigekauft.
Die Frage ist also, ob wir treue oder untreue Knechte sind – womit wir auch wieder beim Thema wären, wie wir unseren Körper verwenden. Wir sollen Jesus dienen. Das tun wir nicht nur, wenn wir in der Gemeinde predigen oder als Theologen lehren, sondern in allem, was wir tun: durch Gastfreundschaft, am Arbeitsplatz, in der Familie. Wir dienen Jesus, indem wir Menschen dienen.
„Wenn du den Satz ‚Ich bin ein Knecht Christi‘ zum Teil deiner Identität machst, brauchst du am Freitag nicht mehr ‚Endlich Wochenende!‘ auszurufen, sondern kannst sagen: ‚Diese Woche hatte ich das Vorrecht, Christus zu dienen, indem ich Menschen gedient habe.‘“
(Jerry Bridges)
Sicher ist das nicht einfach. Aber wir dürfen Schritt für Schritt vorangehen und lernen, treue Knechte zu sein.
Ich bin … noch nicht vollkommen!
Bisher ging es um objektive Wahrheiten. Unumstößliche Tatsachen, die im Alltag vermutlich noch nicht immer zum Vorschein kommen. Es ist wichtig, sich seine Identität in Christus bewusst zu machen – was der Ist-Zustand ist, ohne Diskussion –, und dennoch zu verstehen, dass wir in diesem Leben keine perfekte Umsetzung dieses Wissens erreichen werden.
Es ist nun mal so, dass wir uns in einem täglichen Spannungsfeld befinden zwischen „jetzt“ und „noch nicht“. Eines Tages werden wir, wie Jesus, vollkommen sein.
Unser Körper wird vollkommen sein – Jesus behielt seinen Auferstehungsleib, als er in den Himmel auffuhr (was für eine Ehre, die Gott dem Körper erweist!). Und auch wir werden einen perfekten Körper erhalten, der nicht mehr unter den Folgen des Sündenfalls leidet.
Unsere Liebe zu Gott wird vollkommen sein – wir werden ihn wirklich von ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und ganzer Kraft lieben. Unsere Intimität mit ihm wird nie wieder durch Sünde gestört werden.
Wir werden heilig sein – nicht nur in unserer grundsätzlichen Stellung vor Gott, sondern in jeder Sekunde.
Aber jetzt noch nicht.
So sehr wir es uns auch wünschen mögen – wir sind noch nicht vollkommen. Was heißt das für unseren Alltag?
„Deine schlechtesten Tage sind niemals so schlimm, dass du dich außerhalb der Reichweite von Gottes Gnade befinden würdest. Und deine besten Tage sind niemals so gut, dass du Gottes Gnade nicht mehr nötig hättest.“
(Jerry Bridges)
4. Buchempfehlung
Warum ist es uns so wichtig, dass wir uns bewusst sind, wer wir in Christus sind? Vielleicht ist dir aufgefallen, dass in den letzten Abschnitten immer wieder vorkam, dass etwas so bleibt, wie es ist, unabhängig von den Umständen. Und das ist essenziell.
Wir müssen unser Leben – Denken, Sprechen, Handeln und sogar das Fühlen – danach ausrichten, wer wir wirklich in Jesus Christus sind. Ansonsten werden wir herumgeworfen werden wie eine Nussschale in einem Sturm auf dem Meer.
Wenn wir also unsere Identität auf unser Aussehen, unseren Job oder unsere Beziehungen gründen, steht sie auf wackeligen Beinen. Wenn das unseren Wert bestimmen würde, könnten wir schnell wertlos werden, weil diese Dinge vergehen. Und dann haben wir auch keinen Frieden: Entweder wir sehnen uns nach mehr oder wir haben Angst, das zu verlieren, was wir haben.
Wenn wir unsere Identität in uns selbst oder in der Welt um uns herum festmachen, haben wir eine verzerrte Perspektive auf schlichtweg alles – deshalb muss unsere Identität in Christus begründet sein, und das nicht nur objektiv-theoretisch, sondern ganz praktisch, jeden Tag.
Hoffentlich war dieser Artikel eine gute Starthilfe für dich. Wenn du dich noch weiter mit diesen Themen beschäftigen willst, empfehlen wir die folgenden Bücher. Sie behandeln die zwei Kapitel – Körper und „In-Christus“-Sein – deutlich ausführlicher, als es in diesem Beitrag möglich ist:
Sam Allberry: Gute Nachrichten für unseren Körper
Jerry Bridges: Wer bin ich? Meine Identität in Christus
2 Kommentare zu “Wer bin ich? – Meine Identität in Christus”
Danke für diesen aufrüttelnden Artikel. Er hat mich sehr berührt und korrigiert. Er war Trost und Ermunterung für mich!
Jeder sollte sich mit seiner Identität beschäftigen und Gott bitten sich im rechten Licht zu sehen! Dankeschön 🙏🏽
Hallo Michael,
das ist total schön zu hören! Es ist sehr ermutigend, dass wir uns mit Freude von Gott zurechtweisen lassen dürfen. Klar ist es manchmal unangenehm, aber letztlich hat unser liebender Vater ja nur das Beste für uns im Sinn.
Gottes Segen!
Jerusha
aus dem Missionswerk Heukelbach